Steht die Sektorenkopplung im Allgemeinen noch offenen Fragen gegenüber, so weist vor allem ihr effektiver Einsatz im ländlichen Raum noch erheblichen Forschungsbedarf auf. Sowohl die vorhandenen Netzstrukturen als auch das Mobilitätsverhalten weichen von den Gegebenheiten in urbanen Regionen ab. So erweisen sich die demografischen Strukturen in weniger dicht besiedelten Räumen häufig als Hindernis für den Betrieb von Wärmenetzen – sowohl in wirtschaftlicher als auch in technischer Hinsicht. Zudem bestehen im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs oder der Verfügbarkeit alternativer Sharing-Modelle oftmals signifikante Versorgungslücken, weshalb kaum Alternativen zum motorisierten Individualverkehr bestehen.
Praktikable Lösungen für übergreifende Herausforderungen
Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „EnerRegio - Modellhafte und netzstabilisierende Energiesysteme in ländlichen Regionen“ hat es sich zum Ziel gesetzt, praktikable und übertragbare Lösungen für diese Herausforderungen in einem ländlichen Musterquartier zu entwickeln.
Hierfür nimmt das Projektteam ein Musterquartier im Münsterland in den Blick, das als Modell für ähnlich geprägte ländliche Regionen in Nordrhein-Westfalen dienen soll. Die Untersuchungen im Projekt EnerRegio mit der detaillierten Auswertung des Energiesystems in einem Musterquartier, der umfangreichen Betrachtung diverser Varianten für ein Energiekonzept zur Förderung von Power-to-X- und Speichertechnologien sowie der Simulation eines modellhaften Energiesystems bieten eine Basis, um die weitere Anwendung und Übertragung auf andere ländliche Regionen zu ermöglichen.
Das Projekt auf einen Blick
Kurztitel: EnerRegio
Projektname: Modellhafte und netzstabilisierende Energiesysteme in ländlichen Regionen
Projektpartner: FH Münster, Gas- und Wärme-Institut Essen e. V., B & R Energie GmbH
Projektstart: 01.11.2019
Projektlaufzeit: 3 Jahre
Förderrichtlinie: Einer der Sieger des Klimaschutzwettbewerbs EnergieSystemWandel.NRW mit Förderung im Rahmen der EFRE-Rahmenrichtlinie
Fördersumme: 1.548.671,20 Euro
Einblicke in die Umsetzung vor Ort
Dekarbonisiertes Energiekonzept
Entwicklung eines dekarbonisierten Energiekonzepts
Die betrachtete Region im Münsterland, in der das Musterquartier liegt, ist von einer hohen Dichte an Windenergie- und Biomasseanlagen geprägt. Der Ausbau der Photovoltaikenergie im Musterquartier nimmt stetig zu. Die daraus folgenden Schwankungen in der Strombereitstellung können zu einem Ungleichgewicht von Erzeugung und Bedarf führen. Daher setzt das Projektteam auf die Sektorenkopplung. Hierbei wird über die Schaffung von Speicher- und Flexibilitätsoptionen eine zeitliche und örtliche Verschiebung der Nutzung von Elektrizität im Sektor Strom sowie eine Mitnutzung in den Sektoren Wärme und Mobilität ermöglicht. Damit kann das Stromnetz in weiten Teilen stabilisiert werden, ohne dass eine Abregelung der erneuerbaren Energien oder der Import von fossiler Energie notwendig wäre.
Konkret wird im Rahmen des Projekts der Einsatz von Power-to-Power-Lösungen (Elektromobilität, Batteriespeicher und Wärmepumpen) sowie Power-to-Gas Anwendungen (Wasserstofftechnologien) zur weiteren Dekarbonisierung des Energiesystems untersucht. Für die praktische Umsetzung erstellen die Forschenden zunächst ein Energiekonzept mit unterschiedlichen Varianten zum Ausbau der Flexibilitäts- und Speicheroptionen.
Hierzu ist die Erfassung sämtlicher Energieströme und –flüsse erforderlich, um auf eine zeitlich hochaufgelöste Datenbasis der vorhandenen Erzeugungs- und Bedarfsstrukturen zugreifen zu können. Benötigt werden dabei vor allem relevante Daten der Quartiersbewohner vor Ort. Das Forschungsteam hat diese und weitere Akteure, wie beispielsweise lokale Unternehmen, den regionalen Energieversorger und ansässige Anlagenbetreiber, bereits in einer frühen Phase der Projektentwicklung eingebunden und sich deren Unterstützung in einem Letter of Intent zugesichert.
Aus der Analyse der Daten werden anschließend die Potentiale für ein dekarbonisiertes Energiekonzept erörtert sowie die verschiedenen Ausbaustufen und Technologien bewertet, die innerhalb des Konzepts umsetzbar wären. Die Bewertung kann hinsichtlich unterschiedlicher Schwerpunkte wie etwa in Bezug auf ökologische Auswirkungen – vor allem im Sinne von Treibhausgaseinsparungen - erfolgen.Positive Auswirkungen auf die Stabilisierung des Stromnetzes fließen ebenfalls in die Analyse der Varianten ein, um trotz des Ausbaus fluktuierender erneuerbarer Energien die Netzstabilität zu fördern.
Auch in diesem Prozessschritt wird eine enge Einbindung der Akteure vor Ort angestrebt. In einem gemeinsamen Workshop, zu dem auch überregionale Expertinnen und Experten sowie Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaft eingeladen werden, sollen Zwischenergebnisse diskutiert und optimale Lösungsoptionen ermittelt werden.
Praktische Umsetzung als Blaupause
Praktische Umsetzung in einer Versuchsanlage
In einem nächsten Schritt soll die praktische Anwendung des Energiekonzeptes mitsamt seiner unterschiedlichen Varianten in einer halbtechnischen Versuchsanlage erfolgen. Dies ermöglicht die Überprüfung und Validierung des entwickelten Konzeptes im Hinblick auf die ambitionierten Projekteziele: die Dekarbonisierung der Sektoren Strom, Wärme und Mobilität bei gleichbleibender Gewährleistung der Versorgungssicherheit. Der Betrieb der Versuchsanlage basiert auf Energiesystem- und Stromnetzsimulationen, welche die zuvor ermittelten Daten und Potentiale nutzen und den Versuchsaufbau steuern. Die Versuchsanlage integriert mit einem Elektrolyseur, einem Wasserstoffspeicher und einer Brennstoffzelle eine komplexe Systemkette, deren Praxistauglichkeit für den Einsatz im Quartier untersucht und bewertet wird.
Weitere Bestandteile der Versuchsanlage sind eine biogene Methanisierungsanlage sowie eine biologische Wasserstofferzeugungsanlage, deren Technology Readiness Level durch gezielte Versuchsreihen angehoben werden soll. Der Anlagenverbund kann damit allerdings nicht alle Herstellungs- und Nutzungspfade des künftigen Energiesystems vollständig abbilden. Daher werden weitere Technologien und Flexibilisierungsansätze virtuell eingebunden, wobei auf Erfahrungen aus bereits abgeschlossenen Projekten wie dem Virtuellen Institut NRW – Strom zu Gas und Wärme zurückgegriffen wird.
Wegweiser für Quartiersplaner im ländlichen Raum
Projektziel ist es, eine Blaupause für ein dekarbonisiertes Energiekonzept im ländlichen Quartier zu schaffen. Die Ergebnisse sollen klare Antworten liefern, in welcher Anordnung und Dimensionierung der Einsatz von Speicher- und Wasserstofftechnologien die sektorenübergreifende Dekarbonisierung im ländlichen Raum verwirklichen kann. Ebenso werden sie in Form eines Leitfadens für verschiedenen Anwendergruppen in der Quartiersentwicklung darstellen, welche Schritte für die Entwicklung eines Energiekonzepts notwendig sind und welche Umsetzungspotenziale bereits jetzt realisiert werden können.
Die umfangreiche Betrachtung diverser Varianten sowie die kleintechnische Simulation eines modellhaften Energiesystems in einem Musterquartier schaffen eine vielversprechende Basis, um die Übertragbarkeit der erzielten Ergebnisse zu gewährleisten.
Stand: August 2022